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Rezension: Jonas Kaufmann singt einen ‘Otello’ mit zeitloser Brillanz

Bis der Vorhang aufging, hatten Nörgler bezweifelt, ob dieser hoch geschätzte, aber schwer kalkulierbare und zu Absagen neigende Künstler tatsächlich der Rolle gewachsen sein würde. Erst im März sagte er seinen Auftritt für die mit Spannung erwartete neue “Tosca” an der Metropolitan Opera für die nächste Saison ab, weil er die dafür erforderliche Zeit nicht zu Lasten seiner jungen Familie opfern wollte und stellte damit die Zukunft seiner Karriere in den Vereinigten Staaten in Frage. (Es ist geplant, dass er im April eine Rolle in Wagners „Tristan und Isolde“ in der Carnegie Hall singen soll, aber an der Met hatte er seit 2014 keinen Auftritt mehr.)

Nun, wenn Herr Kaufmann nicht in die Vereinigten Staaten kommt, dann müssen die Vereinigten Staaten – oder zumindest deren allergrößte Opernfans – sich zu Herrn Kaufmann aufmachen: Es lohnt sich. Falls es irgendwelche Fragen über Kaufmanns Sangeskraft und Flexibilität im Alter von 47 gab, dann wurden sie am Mittwoch stimmgewaltig beantwortet, als er in der Eröffnung Otellos Jubelausbruch, das klangvolle “Esultate”, mit großartiger und unvergleichlicher Rauchigkeit meisterte. Sein Ton blieb glatt, seine hohen Töne fest, und das sogar noch am Ende des zweiten Aktes, einer anstrengenden, langen Konfrontation, als Otello, von der – natürlich imaginären – Untreue seiner Frau Desdemona mit seinem böswilligen Fähnrich Iago überzeugt ist.

Er sang den Anfang des großen Monologs “Dio mi potevi” so weich und flauschig, dass man beim Zuhören frappiert Otellos innere Gedankengänge nachzuvollziehen glaubte. Und nachdem er Desdemona erstickt hatte und sich dann zu spät ihrer Unschuld bewusst wurde, dann quoll mit “Niun mi tema” die Reue aus Kaufmann heraus, in einer zutiefst düsteren, fahlen Schwere.

Photo

Kauffmann und Maria Agresta in der Rolle der Desdemona.

Credit
Catherine Ashmore/Royal Opera House

Aber noch eindrucksvoller als jede einzelne Passage war seine durchgängige Sicherheit in einer Rolle, mit der sogar Spitzentenöre zu kämpfen haben. Kaufmann ist einfach für die Rolle wie geschaffen (Er ist, wie man meinen könnte, für sie geboren.): Die düstere Melancholie seiner Stimme, die Natürlichkeit, mit der er diesen verwundeten Außenseitern ein Gesicht verleiht, machte sie für diesen argwöhnischen Feldherrn perfekt.

Obwohl sein Gesang fast makellos war, vermittelte er nicht – zumindest nicht am ersten Abend – die pure Intensität der Rolle. Als Kaufmann im ersten Akt auf der Bühne erschien, um einer Auseinandersetzung zwischen Betrunkenen ein Ende zu bereiten, schien er fast gelangweilt. “Mein Blut gerät in Wallung”, behauptet Otello – aber man würde es durch den zwar perfektionierten, aber emotional unterkühlten Gesang nicht vermittelt bekommen. Im schmerzerfüllten zweiten Akt, als Otello die Anschuldigungen gegen Desdemona erhebt und die Kontrolle über seine wachsende Wut verliert, brilliert Kaufmann mit einer schönen Stimme, aber ein greifbares Gefühl des inneren Kampfes bleibt auf der Strecke.

Es wäre möglich, eine Otello-Produktion auf einen umnebelten, geistesabwesenden Protagonisten abzustimmen – und Keith Warners Inszenierung tut das, indem sie die Isolation der Rolle hervorhebt und der Gestalt ein paar einsame Sekunden auf der Bühne gibt, als sie die Menschenmenge nach dem schmetternden “Esultate” beobachtet. Aber am Mittwoch gab es auch zu viele Momente, die auf althergebrachte Art und Weise Gefühle erweckten, was mich zu der Überzeugung gelangen ließ, dass Kaufmanns Hang zur Kühle durchaus Vorsatz war.

Und diesem Hauch von Kühle konnte auch Antonio Pappanos lebendiges, hingabevolles Dirigieren nichts anhaben. Während des Liebesduetts von Desdemona und Otello am Ende des 1. Aktes zum Beispiel geriet Pappano in höchste Begeisterung, was mit Kaufmann, trotz seiner gesanglichen Finesse, nicht ganz zusammenpasste.

Während der letzten Takte dieses Duetts beschwor Pappano eine gleichermaßen intime und kosmische Landschaft herauf. Später begleitete er das Liebesbekenntnis eines jungen Offiziers mit einem Rauschen von rustikaler, hormonaler Energie. Ich habe nie zuvor von einem Orchester das grimmige Nachspiel auf Iagos Credo so lebendig gehört – als ob dieser nach seiner hämischen Rede wütend auf den Boden spucken würde. Und Pappano leitete einen Chor, der nicht nur das erleuchtende Gebet am Ende des Sturms in der Eröffnungsszene meisterte, sondern auch die beschwipste Behendigeit in dem nachfolgenden Trinklied.

Ihre einfache und gutherzige Desdemona verkörpernd, sang Maria Agresta mit einer Stimme, die mitunter voluminös und weiblich war, manchmal wie von Wolken getragen. Marco Vratogna sang einen ungehobelten, düsteren Iago.

Große Teile von Warners Produktion – mit zeitgemäßen Kostümen (Kaspar Glarner), in Kombination mit sparsamen, ziemlich modernen Bühnenbildern (Boris Kudlicka) und großartiger Beleuchtung (Bruno Poet) – sind schattig, einfach und klar konzipiert. Dennoch hat die Inszenierung kleine Makel, besonders gegen Ende, mit überflüssigen Stilmitteln und Klischees zeitgenössischer Operngestaltung: Zeilen aus dem Libretto dargestellt als Graffiti; zerbrochene Skulpturen; ein Blutspritzer auf einer sonst völlig weißen Wand; ein letzter, überflüssiger Neon-Heiligenschein um Desdemonas Schlafzimmer herum.

Aber keine dieser irritierenden Interventionen konnten von der Nachricht des Abends ablenken: Kaufmanns höchst überzeugende Gesangsleistung in einer der anspruchsvollsten Rollen im Opernrepertoire überhaupt. Dramaturgisch gesehen ist sein Otello eindeutig noch in der Phase der Formation, aber gesanglich ist er schon ein Teil der großen Tradition.

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